Erfahrungsberichte

23. Bundesweite Aktionswoche Schuldnerberatung „… und plötzlich über­schul­det“ – Fallbesprechungen

„… und plötzlich überschuldet“ heißt der Titel der 23. bundesweiten Aktionswoche Schuldner­be­ratung, der unmissverständlich deutlich macht: Überschuldung kann jede/jeden plötzlich und uner­wartet treffen!

Wie die Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen, gibt es viele verschiedene Grün­de, warum Menschen in Überschuldungssituationen geraten können. Dazu zählen seit Jahren neben „Trennung, Scheidung, Tod“ (2021: 11,8%) und „Erkrankung, Sucht, Unfall“ (2021: 17,8%) insbesondere die „Arbeitslosigkeit“ (2021: 19,4%) (Schuldneratlas 2021: 60).

Was die Statistiken aber nicht zu zeigen vermögen: Hinter den Prozentzahlen stecken echte Le­bens­­geschichten, individuelle Schicksale, die häufig so vielfältig und komplex sind, dass sie sich nie­mals ausreichend in statistischen Daten ausdrücken ließen.

Hinter der Statistik stecken echte Lebensgeschichten.

Aus der Praxis wissen wir: Einzelne Gründe und Auslöser treten selten alleine auf, sie sind häufig miteinander verwoben und können dazu führen, dass Menschen unerwartet in eine vermeintlich nicht zu stoppende Überschuldungs­spirale geraten.

Dies zeigen auch die folgenden Fallbeschreibungen.

"Die Depression kam schleichend..."

Lange Zeit ist es der 37-jährigen Frau S. gelungen, selbst vor engen Freunden und Familie ihre finan­zielle Situation zu verbergen. Als Künstlerin war sie es gewohnt, immer von Auftrag zu Auftrag zu le­ben und hat sich in finanziell engen Situationen mit anderen Gelegenheitsjobs über Wasser halten können. Das hat lange Zeit funktio­niert, bis sie krank wurde. „Die Depression kam schleichend, zuerst wusste ich gar nicht, was mit mir los ist und irgendwie habe ich mich auch geschämt“, sagt Frau S. Am Ende habe sie es nicht mal mehr geschafft, an den Briefkasten zu gehen, zu groß war die Angst vor weiteren Gläubigerbriefen.

„Zuerst wusste ich gar nicht, was mit mir los ist und irgendwie habe ich mich auch geschämt.“

Frau S. kommt heute mit ihrer Mutter in die Beratung, die seit einigen Jahren im Ausland lebt und nun bei ihrem Besuch erst erkannte, wie schlecht es ihrer Tochter wirklich geht. Frau S. ist seit nunmehr 8 Monaten arbeitslos, hat aber keine
Sozialleistungen beantragt. Sie sagt, die Depression habe sie einfach handlungsunfähig ge­macht. Inzwischen sind rund 38.000 € Schulden aufgelaufen; davon entfallen alleine auf die Kran­kenkasse 35.000 € in Form von Zahlungs­­­rückständen und Säumniszuschlägen. Die Ver­sicherung hatte den Höchst­satz veranschlagt, da es Frau S. versäumt hatte, Änderungen ihrer wirt­schaftlichen Situation zu melden. Das hat auch dazu geführt, dass Frau S. im Notlagentarif gelandet ist und somit nur noch eingeschränkt versichert ist.

Dass man in Deutschland aus der normalen Kran­kenversicherung herausfliegen kann, habe sie gar nicht gewusst, sagt sie. Inzwischen liegt die Forde­rung beim Haupt­zollamt, der Druck wird immer größer. Ihre Erkrankung, das fehlende Geld, um ihren Lebens­unter­halt zu bestreiten, geschweige denn ihre Schulden zu begleichen, die ständigen In­kasso­schreiben und die Sorge, wie es heute, aber auch in Zukunft weitergehen soll – für Frau S. erscheint die Lage aussichtslos.

Seit dem Erstgespräch sind inzwischen etwa 6 Monate vergangen und vieles hat sich geändert. Nach­dem wir uns gemeinsam darum gekümmert haben, schnellstmöglich Sozialleistungen zu be­antragen und eine ambulante Be­treu­ung vermittelt haben, konnten wir uns dem eigentlichen Thema Schulden zuwen­den.

Frau S. hat mit Hilfe ihrer Mutter Briefe geöffnet, gesichtet und sortiert. Wir haben eine Gläubigerliste erstellt und ausführlich über die Wege der Schuldenre­gu­lie­rung ge­sprochen. Von der Möglichkeit, durch ein Insolvenzverfahren aus der Überschuldung heraus­­zu­kommen, hatte Frau S. schon gehört und in Abwägung ihrer Situation entschied sie sich letztlich dazu, diesen Weg gehen zu wollen.

Heute geht es ihr auch gesundheitlich wieder besser. Die Perspektive, den Schuldenberg in 3 Jahren endlich loszuwerden, wieder finanziell neu beginnen zu können, haben ihr nicht nur eine große existenzielle Sorge genommen, so Frau S., sondern ihr auch die die Kraft gegeben, sich ihrer Krankheit zu stellen.

"Ich habe mich einfach wertlos gefühlt."

Als der 59-jährige Herr K. vor 3 ½ Jahren seinen Job aufgrund eines allgemeinen Stellenabbaus bei seinem Arbeit­geber verlor, hätte er niemals gedacht, dass er heute bei uns sitzt, weil er einfach nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Gut 25 Jahre hatte er bei einem mittelständischen Unternehmen gearbeitet, ein solides Gehalt bekommen, das für das Leben mit seiner Frau und dem inzwischen 20-jährigen Sohn ausreichte, wenn auch große Sprünge nie möglich waren. Herr K. berichtet, dass er trotz seines Alters eigentlich zuver­sichtlich war, als Facharbeiter schnell wieder einen Job zu fin­den. Dann kam Corona. Und auch zu Hause gab es immer mehr Probleme; die anhaltende Arbeitslosigkeit und zu­nehmenden finanziellen Engpässe belasteten die Ehe. „Irgendwann habe ich dann auch einfach zu viel und zu oft getrunken; ich habe mich einfach wertlos gefühlt.“ Herr K. sagt, dass er verstehen kann, dass seine Frau irgend­wann nicht mehr konnte und auszog.

„Irgendwann habe ich dann auch einfach zu viel und zu oft getrunken; ich habe mich einfach wertlos gefühlt.“

Auch finanziell war er nun auf sich alleine gestellt. Als dann auch noch unerwartet Rückzahlungen der Agentur für Arbeit wegen Über­zahlung gefordert wurden, konnte Herr K. den laufenden Ver­pflich­tungen endgültig nicht mehr nach­kommen. Neben einem noch nicht abbe­zahlten Raten­kredit für die damalige Ein­richtung der Wohnung waren noch viele weitere kleine Forderungen entstanden, die sich zu einer Ge­samtverschuldung von fast 16.000 € aufgetürmt hatten.

Inzwischen ist Herr K. seit nunmehr zwei Jahren bei uns in der Beratung. Als er damals zum Erst­gespräch hier erschien, hatte sich die Lage deutlich zugespitzt. Der Gerichtsvollzieher war bereits da und nun wurde auch noch das Konto gepfändet. Herr K. berichtete, dass er nicht mal mehr wisse, wie er bis zum Ende des Monats Essen kaufen solle. Zudem war aufgrund steigender Ener­gie­preise in­zwischen ein Rückstand beim Strom­versorger entstanden und es drohte der Wohnungs­verlust. Gerade die Angst vor der Ob­dach­­losigkeit bewegten Herrn K. dazu, den Weg in die Schuldner­beratung nun doch zu wagen, sagt er. „Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass ich mal jemand von diesen Menschen sein werde.“

In Fällen wie dem des Herrn K., in denen Stromsperren oder gar der Wohnungsverlust drohen, ist schnelles Handeln besonders wichtig. Es zeigte sich, dass Herr K. bislang vor allem versucht hatte, die Zahlungen des Ratenkredits und der kleineren Forderungen am Laufen zu halten – eine falsche Priorisierung, wie wir sie oft in der Praxis sehen.

 Auf Anraten stellte Herr K. diese Zahlungen zunächst einmal ein, um stattdessen wieder finanzielle Spielräume zu haben, um Strom- und Miet­schulden so schnell wie möglich regeln zu können. Herr K. schilderte sowohl dem Energiever­sorger als auch seinem Vermieter offen und ehrlich seine derzeitige Situation, klärte die Höhe der Rückstände und es gelang ihm, eine Vereinbarung zu den laufenden Zahlungen sowie eine Ab­schlags­zahlung auf die Rück­stände zu vereinbaren. Zwar handelte es sich nur um kleine Raten­zahlungen, aber die Er­leichterung über eine Lösung war groß und der Erfolg gaben ihm Mut, auch den Rest wieder in den Griff
bekommen zu können.

Herr K. kommt nicht häufig, aber immer noch regelmäßig zu uns. Das gebe ihm Stabilität, sagt er: „Zu wissen, dass ich mit alldem nicht
alleine bin, hier immer einen Ansprechpartner habe, das hilft wirklich sehr.“

„Zu wissen, dass ich mit alldem nicht
alleine bin, hier immer einen Ansprechpartner habe, das hilft wirklich sehr.“

Wie ein Großteil der überschuldeten Menschen hat sich Herr K. dazu entschieden, vorerst mit den Schulden zu leben. Das eingerichtete Pfändungsschutzkonto, die gemeinsam erarbeitete Haushalts­planung und die Ge­­wissheit, dass Strom und Miete nicht mehr gefährdet sind, haben den Umgang mit den noch be­stehenden Schulden enorm erleichtert, sagt er. Einen Job hat er leider noch nicht ge­funden, wodurch Vergleiche mit den noch übrigen Gläubigern kaum möglich sind; ein Insol­venz­­verfahren kommt für ihn momentan nicht in Frage. Herr K. hofft, bald doch wieder einen feste Anstellung zu finden und dann den Rest seiner Schulden be­gleichen zu können.